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: Berufe im Einzelhandel: systemrelevant, aber nicht empfehlenswert

Beschäftigte im Einzelhandel raten mehrheitlich davon ab, diesen Berufsweg einzuschlagen. Die Gründe: familienunfreundliche Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung und überhebliche Kunden. Für bessere Arbeitsbedingungen braucht es flächendeckende Tarifverträge – und in der Coronakrise einen konsequenten Gesundheitsschutz und die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes.

Würden Sie einem jungen Menschen raten, Ihren Beruf zu ergreifen?
Gut 30.000 Beschäftigte haben diese Frage auf dem Gehaltsportal Lohnspiegel.de beantwortet. Herausgekommen ist eine lange Liste von Berufen, die von den Angehörigen des Berufs weiterempfohlen werden – und eine kurze Liste mit Berufen, von denen die Befragten mehrheitlich abraten. Ganz oben auf der Negativ-Liste stehen Bankkaufleute, die offenbar in der Branche keine Zukunft mehr sehen, sowie die beiden Knochenjobs Berufskraftfahrer/in und Koch/Köchin. Es folgen gleich drei Berufe aus dem Einzelhandel: Verkäufer/in im Einzelhandel, Kassierer/in im Einzelhandel sowie Einzelhandelskaufleute. Lohnspiegel.de wird vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung wissenschaftlich betreut.


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„Die meisten Menschen mögen ihren Beruf und identifizieren sich mit ihm“, sagt Dr. Malte Lübker, Experte für Tarif- und Einkommensanalysen am WSI. „Wir waren deshalb schon überrascht, wie oft Beschäftigte aus dem Einzelhandel davon abraten, diesen Berufsweg einzuschlagen: Gut 60 Prozent tun das.“ (Siehe auch Abbildung 1) Die Daten wurden vor Beginn der Coronakrise erhoben, spiegeln also die aktuelle Gefährdungslage noch nicht wider. Drei Gründe sprechen aus Sicht der mehr als 1000 Befragten aus Einzelhandelsberufen auch in besseren Zeiten gegen eine Tätigkeit im Handel: familienunfreundliche Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung und unangenehme Erfahrungen mit unwirschen oder überheblichen Kunden. Es gebe allerdings auch positive Stimmen, so Lübker. Etwa von Beschäftigten, die den direkten Kontakt mit Menschen loben, oder darauf hinweisen, dass es für eine Tätigkeit im Einzelhandel vergleichsweise geringe Einstiegshürden gibt.

Die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel sind im Zuge der Coronakrise in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, werden aber seit langem von Arbeitnehmervertretern kritisiert. Im Jahr 2018 waren nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nur noch 36 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel durch Tarifverträge geschützt, die für geregelte Arbeitszeiten und faire Bezahlung sorgen. Bis zur Jahrtausendwende wurden Tarifverträge hingegen in der Regel für allgemeinverbindlich erklärt, das heißt sie galten für alle Unternehmen der Branche und schafften so faire Wettbewerbsbedingungen. „Seit einigen Jahren erleben wir einen härteren Wettbewerb, der leider oft auch auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird“, so WSI-Experte Lübker. „Das droht eine ganze Branche als Arbeitgeber in Misskredit zu bringen“. Einige große Discounter versuchten bereits, sich dem Sog zu entziehen, indem sie mit überdurchschnittlichen Löhnen um Mitarbeiter werben.

Die Situation im Einzelhandel hat sich mit dem Ausbruch der Coronakrise noch einmal deutlich verschärft: Beschäftigte im Lebensmittelhandel und anderen Bereichen der Grundversorgung sind durch Kundenkontakte einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Viele Mitarbeiter von Kaufhäusern und Bekleidungsgeschäften sind hingegen mittlerweile in Kurzarbeit und haben Einkommenseinbußen von bis zu 40 Prozent erlitten. „Die Handelsunternehmen haben in der Krise die Chance, ihr schlechtes Renommee aufzubessern und sich als verlässliche Arbeitgeber zu erweisen“, sagt Lübker. „Dazu müssen sie auf die beiden drängendsten Anliegen der Beschäftigten eingehen: den Gesundheitsschutz konsequent umsetzen und die Einkommensverluste zumindest teilweise ausgleichen.“ Einige Großfilialisten haben bereits gehandelt und stocken das Kurzarbeitergeld auf 90 bzw. 100 Prozent des Nettoentgelts auf. Die Gewerkschaft ver.di fordert für die gesamte Branche eine einheitliche Lösung im Rahmen eines Tarifvertrages.

Wer als Berufseinsteiger die Wahl hat, sollte sich gezielt einen tarifgebundenen Arbeitgeber suchen, rät der Fachmann. Oder einen Beruf, der weiter oben auf der Empfehlungsliste steht. Unter den Ausbildungsberufen schneiden zum Beispiel Mechatroniker/in (93 Prozent Weiterempfehlung), Fachinformatiker/in (92 Prozent) und Industriekaufleute (88 Prozent) gut ab. Auch unter Personalsachbearbeitern empfehlen 90 Prozent der Befragten ihren Beruf weiter. Zum Teil noch höhere Zufriedenheit herrscht unter Befragten in verschiedenen Ingenieur- und IT-Berufen, die ein Studium voraussetzen (Abbildung 2).

„Die Berufswahl ist natürlich immer in erster Linie eine Frage der persönlichen Interessen und Stärken“, so Lübker. „Unsere Auswertung bietet nur eine erste Orientierung und kann das persönliche Gespräch mit Menschen, die schon in dem Beruf arbeiten, nicht ersetzten.“ Zur informierten Berufswahl gehört auch eine realistische Einschätzung der langfristigen Verdienstaussichten. Zu den nicht-kommerziellen Informa­tionsquellen gehören der Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit sowie der Lohn- und Gehaltscheck auf Lohnspiegel.de, der für Beschäftigte in über 500 Berufen einen individualisierten Gehaltsvergleich anbietet. Einen Überblick zu den Ausbildungsvergütungen und den Tarifverdiensten bieten die Seiten des WSI-Tarifarchivs.

– Informationen zur Methode –

Die Daten des Portals Lohnspiegel.de beruhen auf einer kontinuierlichen Online-Umfrage unter Erwerbstätigen in Deutschland. Für die Analyse wurden 30.151 Datensätze ausgewertet, die vom 24. September 2019 bis zum 12. März 2020 erhoben wurden. Die Umfrage ist nicht-repräsentativ, erlaubt aber aufgrund der hohen Fallzahlen detaillierte Einblicke in die Arbeitsbedingungen in Deutschland. Berücksichtigt wurden nur Berufe, aus denen sich mindestens 100 Beschäftigte beteiligt haben. Lohnspiegel.de ist ein Angebot der Hans-Böckler-Stiftung.

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